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In welcher Kultur leben wir?

Irgendetwas “stimmt nicht” mit unserer Gesellschaft, irgendwie fühlen wir uns gerade “nicht wohl” mit unserer Kultur. Diese Erkenntnis war recht schnell Konsens beim ersten “Stadtgespräch” im Pop-Up-Store des Kiezkaufhauses in Wiesbaden am 18.05.2017. Es ging es v.a. darum, den Kultur-Begriff überhaupt zu definieren und dann zu analysieren, warum wir uns gerade nicht wohl damit fühlen. Ein spannender Gast auf dem Podium war Prof. Dr. Meinhard Miegel von der Stiftung Kulturelle Erneuerung. Miegel erläuterte sein Modell, wonach man unsere aktuelle westliche Kultur anhand von drei Aspekten in einer Art Trias beschreiben kann:

  1. Kultur der Kurzfristigkeit

    Unsere westliche Kultur ist nicht nachhaltig, sondern sehr kurzfristig ausgerichtet, ohne Weite. Es geht nicht um das große Ganze, den roten Faden oder grundlegende Werte die wir verfolgen und weitertragen. Vielmehr sind Dinge heute “in” und morgen schon wieder nicht mehr angesagt. Alles ist schnelllebig und nicht langfristig angelegt.

    Ich selbst teile diese Beschreibung, tue mich aber mit einer Bewertung an dieser Stelle schwer. Miegel begründet das v.a. mit dem Verlust an Religion und Glaube. Eine Schnelligkeit kann aber (nur eine These!) auch Flexibilität und Wandlungsfähigkeit bedeuten.

     

  2. Kultur des Individuums

    Konsens unsere Kultur ist längst nicht mehr die Weiterentwicklung der Gemeinschaft, sondern die Weiterentwicklung des Einzelnen. Diese Individualisierung führt dazu, das wir uns von unserem sozialen Umfeld und von der Natur entfremden und nur unseren eigenen Nutzen sehen und dementsprechend handeln.

     

  3. Kultur des Wohlstands

    Als Ausprägung von Kurzfristigkeit und Individualisierung zeigt sich, das unser Lebensziel darin zu bestehen scheint, unseren individuellen Wohlstand zu vermehren, der nahezu ausschließlich materiell definiert wird. Es geht uns nicht um Gemeinwohl oder Wissensvermehrung – Geld ist die Maxime. Wir beuten dazu die vorhandenen Ressourcen so stark aus, das wir unsere eigene Lebensgrundlage vernichten – ein wohl einmaliger Vorgang in der Geschichte des Planeten.

 

Ich denke, das sind Beschreibungen und Merkmale, die viele von uns unterstreichen würden. Mich hat der Versuch dieser Beschreibung nicht losgelassen und aus meiner Sicht gibt es einen vierten Aspekt, den man ergänzen müsste.

(4) Kultur der Bewusstlosigkeit

Trotz unseres Unbehagens und dem Gefühl von “so geht es nicht weiter” fühlen wir uns hilflos, glauben nicht daran, die Systeme grundlegend verändern zu können. Und vermeintlich große Teile unserer Gesellschaft nehmen diese Zuspitzung erst gar nicht war, sie sind passiv und unreflektiert in Ihren Handeln als Individuum, Kunde, Kollege, Nachbar oder Wähler. Eine Art Bewusstlosigkeit wird zum Status Quo, der kontrollierenden Systemen und Organisationen nicht unrecht zu sein scheint. So lange der Arbeitsplatz da ist, das Geld stimmt und der Fernseher läuft wird die Komfortzone nicht verlassen. Und wer die ertrinkenden Flüchtlinge, die Wasserausbeutung von Nestlé in Afrika oder die Plastikflaschen im Ozean dann doch in den Medien wahrnimmt fühlt sich nicht in der Lage, etwas dagegen zu tun. Ein Paradoxon, weil uns der Glaube an eine Selbstwirksamkeit verloren geht. Wir könnten alle wählen gehen oder Parteien gründen oder für Volksabstimmungen eintreten, wir könnten Nestlé-Produkte boykottieren und wir könnten Plastik einsparen. Ich glaube fest daran, das in dieser Umkehr zu einer bewussten, verantwortungsvollen Haltung der Schlüssel zur Veränderung liegt.